Im Angesicht der Sucht

Heute, hier, jetzt mein erster Blog. Damit verbunden keine Absicht Wissen oder Theorie zu vermitteln….. meine Absicht ist, meinen Erfahrungsschatz aus Selbsterleben in verschiedenen Rollen mit euch zu teilen. In meinem heutigen Leben treffen mein Expertenwissen aus 10 Jahren Eigenerfahrung in und mit Essstörungen auf meine sich immer mehr summierenden Erfahrungen im Begleiten von Essstörungs-Betroffenen und den Angehörigen in meiner Praxis Sula-Sun. 

Aus genau diesem Erleben möchte ich berichten, wann immer ich den Impuls dazu verspüre…. Genauso wie jetzt das heutige Thema auch entstanden ist. Dazu inspiriert haben mich zwei Begegnungen der letzten Wochen. Doch dazu später. 

 

IM TIEFSTEN TAL

Das gewählte Bild zum heutigen Text entstand in der Zeit, wie ich für zwei Wochen in der medizinischen Abteilung eines Spitals lag. Selbsteingeliefert mit keinem Gramm Fett am Körper, zu schwach um überhaupt in die - dem Spital zugehörige - psychosomatische Klinik eintreten zu können. Ich konnte nicht mehr, war im tiefsten Tal angekommen. Ein Teil von mir wollte wieder essen lernen ohne künstlich ernährt werden zu müssen, mein Suchtanteil liess den dazu erforderlichen Kontrollverlust nur kontrolliert zu. Was für ein Witz in Anbetracht der Sachlage. Dies nicht eine Erkenntnis von heute im Rückblick, nein dies auch bereits zu dem Zeitpunkt in meinem Bewusstsein. Stark und sicher fühlte ich mich nur im kontrollierten Bereich, das heisst wenn Hände und Füsse kalt waren, mein Magen leer war, ich vor lauter Hunger den Hunger nicht mehr spürte. Ja da fühlte sich mein Suchtanteil in seinem Element. In dieser Welt da befand sich die Macht, da war kein Gefühl. Hatte ich gegessen fing es an in meinem Bauch zu trommeln, meine Füsse und meine Hände wurden warm, das Versagen meines Suchtanteils spürbar. In dieser Hilflosigkeit ein diffuses Gefühl von Trauer, Angst…. Nicht zum Aushalten. 

 

AUSSCHNITT AUS MEINEM TAGEBUCH

16.01.1998

….heute morgen erhielt ich 1 Birchermüesli, 2 Scheiben Brot, 40g Käse. Nach Esskonzept muss ich ½ Müesli, 1 Brotscheibe und den Käse essen. Habe ich gegessen und die zweite Scheibe Brot weggetan zum Znüni. Nachdem die Spitalgehilfin das Tablett abgeräumt hat, kommt sie nach einer Zeit wieder mit einem kleineren Tablett. Da drauf ist der Rest Müesli, die Milch (ich nehme immer nur ganz wenig in den Kaffee)….. sie teilt mir mit, dass dies innerhalb einer Stunde gegessen/getrunken sein müsse. So sei die Abmachung. Jedoch das Esskonzept ist anders. Also konnte ich mich wieder einmal nicht beherrschen und klingelte nach meiner heutigen Schwester. Sie kam, hörte mich an und meinte nur: „Versuchen sie es“ und ging. Also sass ich immer noch vor diesem Tablett und trotzte wie ein kleines Kind. Irgendwie konnte ich es aber nicht einfach so lassen und ass halt das Müesli noch zu einem Viertel, stellte das Tablett dann auf den Tisch und verschanzte mich unter der Bettdecke mit lauter Musik. 

Ich bin doch kein kleines Kind mehr und dennoch verhalte ich mich genauso. Weshalb konnte ich mich in dem Moment nicht gegen dieses Verhalten wehren und mich so verhalten, wie es für mich am Positivsten gewesen wäre? Nämlich einfach essen und dann vergessen. Wenn ich nämlich ehrlich bin, so könnte ich immer etwas essen, wenn nur mein Kopf dies zulassen würde. Meine Kontrolle nachlassen dürfte. Ich schaue aus dem Fenster, sehe Häuser, Berge… doch nichts erreicht mich. Was soll ich nur tun, damit ich aus diesem Loch rauskomme? Ich bin heute die Sucht pur. 

 

VERMITTLERIN ZWISCHEN ZWEI WELTEN

Wenn mir, wie in jüngster Vergangenheit geschehen, eine Klientin gegenübersitzt, mir erzählt, dass sie ungefähr zehnmal am Tag erbricht und gleichzeitig dazu sagt, dass sie jederzeit damit aufhören kann, sobald sie ihr nicht definiertes Wunschgewicht erreicht hat, dann ja dann verstehe ich wo sie steht. So absurd das klingt, so sagt der Suchtanteil der Betroffenen, dass er alles im Griff hat und die ehrliche Stimme im Inneren weiss genau wie es um sie steht. In genau solchen Situationen ist für mich die Hilflosigkeit des Umfeldes so spürbar. Ich kann nachempfinden, wie es für Mutter/Vater/Geschwister/Freunde sein muss, wenn sich die Suchtbetroffene Person so verhält. In solchen Situationen wandle ich als Vermittlerin zwischen zwei Welten im Wissen darum, dass ich begleiten darf, Impulse setzen kann…. Doch die Entscheidung der Sucht die Stirn zu bieten, diese Entscheidung fällt ein jedes Wesen auf seine ihm ganz eigene Art. Manche – wie ich – dürfen an einem Punkt des Leides ankommen, wo der Tod in irgendeiner Form sich spürbar zeigt. Der Tod trotz allen Lebensherausforderungen (noch) nicht willkommen ist und sich somit nur der Weg hin zum Leben als Lösung anbietet. Andere fühlen sich in der richtigen Begleitung plötzlich erkannt und können Schritt für Schritt Entscheidungen treffen, welche sie ihrer Heilung näherbringen. Das sind Momente von grossem Mut, denn oft kommen nach einer solchen bewussten Entscheidung die schmerzhaften Anteile erst richtig hoch, die sind ja nicht einfach fort, die werden von der Sucht in Schach gehalten. Ist dann diese Tarnkleidung aufgeflogen und in’s Bewusstsein gerückt, so entfällt dieses Versteck und das Leben steht vor der Tür. So gerade auch jüngst bei einer Magersuchtbetroffenen so geschehen. Eine mutige junge Frau ist zu mir gekommen, damit ich ihr meine Geschichte erzähle. Eindeutig untergewichtig, sehr kontrolliert, gleichzeitig mit einer zarten Verletzlichkeit. Sie sei nicht magersüchtig hat sie zu Beginn des Gesprächs festgehalten, doch kämen immer mehr Personen von Aussen mit dieser Aussage auf sie zu und das überfordere sie. Wir sind dann zusammen den Ursachen für ihre Magerkeit auf den Grund gegangen. So unter anderem auch ihrem Kontrollwahn begegnet. Bereits eine Stunde später hat sie sich mir gegenüber ganz verändert gezeigt. Tränen der Erkenntnis, des Verstehens und der Hilflosigkeit mischten sich mit der ganz starken Entscheidung einen neuen Weg gehen zu wollen. Sie hat sich professionelle Hilfe geholt, stellt sich ihrer Geschichte, ihrem Schmerz… steht jetzt an einem Punkt, wo sie sich eingesteht, dass ihr gerade alles zu viel wird…. Steht in diesem Feuer, hält aus, ….geht hindurch, da bin ich mir sicher. Auf diesem Weg des Vertrauens und mit einer unermesslich grossen Portion Geduld, welche das Leben von ihr fordern wird, werde ich sie weiterhin begleiten. Was für ein Geschenk!

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